Werner Bucher: Es sind die Strassen

      Für Ágnes Rapai, die ungarische Dichterin

      Es sind die Strassen, die
      dich kennen, dreckige, abge-
      fuckte Strassen und von Abgasen
      schwarz gewordene Häuser. Im
      Gewimmel der Lärmer, der
      Verkäufer tauchst du auf, weichst
      Trabis und andern Schrotthaufen
      aus, befürchtest, das
      ewige Laufband des Lebens
      morkse dich ab. Es wird
      nicht geschehen. Nahes
      wie Fernes träumt von deiner
      leisen Haut, von deinen Schluchten
      und Windungen, von
      deinem Lachen
      und deiner Offenheit, und
      so mancher weiss, deine Hände
      warten auf andere Hände. Ja,
      sterben wirst du erst,
      wenn viele Täler, viele Anhöhen
      dich erfahren haben. Das
      dauert noch seine Zeiten.

      Es sind die Strassen, immer die Strassen.

      Werner Bucher: „Den Fröschen zuhören, den toten Vätern“
      2005 Rauhreif Verlag Curt Zimmerman, Zürich





      Wettrenen mit der Droste


      (Statt mit Hölderlin zu spazieren, wies die ungarische Poetin Agnes
      Rapai getan hat, renne ich mit der Droste um die Wette)


      Ja, häng dich bei mir ein, er-
      zähl mir von den dunklen & hellen Schatten
      & von deinen Depressionen & so seltenen Purzelbäumen, ich
      komme aus andern Häusern als du, glaube
      nicht an Gott & glaube ab & zu & gelegentlich doch
      an seine Anwesenheit, dein von dir närrisch geliebter Levin
      ist keinen Schuss Pulver wert, geschweige
      eine Träne, warum hast du
      deine Mutter nicht hinter dir gelassen &
      die westfälischen Moore & Wassersclösser & Kanäle, die
      so schaurig sind? In deinem Meersburg
      bin ich mit der Dichterin Vera Piller* um-
      hergestiegen, sie hat dich nicht gekannt (falls es
      die Wahrheit gewesen ist), hat nie
      eine Zeile von dir gelesen, trotzdem
      behauptete sie gern &häufig, sie
      sei die neue Droste, vielleicht
      war sies, das Unglück auf alle Fälle
      pachtete sie jahrein jahraus von dir, was,
      di liebst Levin noch immer, bist
      ihm bislang treu geblieben? Nun, das geschieht
      hin & wieder, früher schenkte ich auch
      den falschen Frauen mein Herz, flehte
      sie an, mich zu erhören, bis ich
      aus allem rauslief; wir hätten es zusammen
      gut gehabt. Doch wer von Schloss zu Schloss
      kutschiert wird & sich tagsüber hinter Rüschen
      & Plüschvorhängen verbirgt, lernt
      mich nicht kennen oder erst im hohen Alter. Schau drum
      auf den Hang direkt vor unsern Augen
      & auf die munteren Kühe, auch der See verdient deine Liebe,
      wenigstens aus dieser Perspektive, ständen wir
      unter am Ufer, würde die Liebe wohl bald vergehn. Von
      üblen Halunken gemietete Flugpisten, Schlachthäuser, gewaltige
      Industrieareale & stereotype Wohnblöcke, sie
      brächten nicht gerade umwerfendes Entzücken
      in unsere ohnehin schweren Köpfe, um die
      Millionen von Autos mit ihren schwarzgrauen Rauchwolken
      zum Vorneherein zu unterschlagen. Vergessen wirs, gehn
      wir weiter, dort oben weiss ich eine uralte, von Dornbüschen
      überwachsene Bank, direkt über Birken & Pappeln & mit
      Sicht zum Steinernen Tisch & zum Schwäbischen Meer. Weißt du,
      in Budapest lebt auch eine Dichterin, die geniesst ihr Frausein,
      ihre Lust & schreibt ähnlich gut wie du, mir tuts

      schon lange weh, dass du derart ausschliesslich
      ins Leiden & ins Alleinsein verstrickt bist, klar,
      mich plagen derzeit die Appenzeller Steuerfahnder & die
      Politiker dürfen ihne trüben Spielchen weiterhin
                                                     ungestraft betreiben, in-
      dessen sie solche wie mich (& es gibt nicht manche
                                                               von dieser Sorte)
      liebend gern in die Pfanne hauen; weiterhin
      gefällt der Masse der Markt
                & so viele hören auf Prediger & Scharlatane, Wochenende
      für Wochenende verstopfen sie die Strassen
                                      mit dem Sarg gleich auf dem Autodach, ich
      weiss dennoch, in manchem Hotel findet sich
      ein freies Bett &, wenn du magst, mieten
      wir uns heute Abend irgendwo ein Zimmer & trinken
      zuvor einen Pinot Grigio oder einen Jeninser
      in der schummrigen Hotelbar. Was?, du
      gehst auf meinen Vorschlag ein, willst,
      dass wirs versuchen? Nicht schlecht, nicht
      schlecht!, komm, Annette, wir rennen los, wer
      zuerst bei den Kühen dort vorn ist, zahlt das Zimmer & den Wein-
      eins, zwei, drei, jetzt!

      Hoppla, verflixt, du bist aber schnell für dein Alter,
                            da hab ich keine Chance, ich zahle, ja, ich zahle,
                                             komm, hör auf, bitte, du hast gewonnen…!


      *Deutsche Lyrikerin, die in der Nacht
      vom 15. auf den 16. Mai 1983 mit 33
      Jahren im Zürchen Oberdorf in ihren
      Duschwanne ertrunken ist.




      Der graue Himmel, ganz ohne Belang


      In deiner Stadt Dreck und Wassertümpel, einer
      pisst ungeniert auf dem Platz der Revolution, indessen
      der Pianist vom „New York” amüsiert Elvis
      Presleys späte Rhytmen spielt. Ich aber, ich
      kenne dich, ich war mit dir am Batthyany-Platz
      unter Bettlern und Verkäufern, sah mit dir
      das unverstellte Meer bei Zadar, habe dir
      in Astano junge Männer gezeigt, die uralt sind, und
      war in deiner erahnten Begleitung auf den von der Geschichte
      heimgesuchten Hügeln rund um Budapest. Erst am versteinten
      Ufer des erträumten Bergsees hab ich freilich bemerkt, dass
      du wie ein Fisch
               schwimmen kannst
      und nicht nur in deinem braunen Mantel und unter der russischen
      Pelzmütze stolz durch die Strassen von Honoré de Balzac schreitest.
      Der graue Himmel in deiner Stadt ist ohne Belang, ebenso die Diebe
      in der Metro und anderswo. Es berührt
      dich nicht. Du hast all die müden Bettler in dir
      und bist doch die Frau, die gebetsschwangere Kirchen streift
      und sonntags demütig auf Steinböden kniet. Jahwe
      darfst du also in aller Ruhe vergessen, den Neger vom Moskauplatz
      und die Mörder in Astanos dunken Gassen. Wenn
      du zu lachen beginnst, wird die Welt in Windeseile
      ihre verwaschenen Farben verlieren
      und ein Blau wird sein, wie
      es kein Dichter je beschreiben hat. Das reicht, adelt
      den Schmutz, die verdreckten und lausigen Autos
                    und unsere vom Leben aufgebrachten Körper. Wir sind
                                                 (vorderhand) nicht in Teufels Hand.

                                                                                         (1.11.95)

Werner Bucher: „Weitere Stürme sind angesagt“ Appenzeller Verlag, 2002.

„Werner Bucher, 1938 in Zürich geboren, ist Luzerner, Bürger von Ruswil (ein Urahne kam in der Schlacht von Sempach gegen die Habsburger um, der Legende nach direkt neben Arnold Winkelried). Er lebt heute in der Wirtschaft Rütegg im appenzellischen Oberegg (AI)…”


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